Dr. Dr. Jens Holst, international consultant - health expert

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15.04.2007

Therapietreue: „Auch eine Bringschuld des Versorgungssystems“

Compliance – Also a debt to be discharged by the health care system

Internationale Studien zeigen, dass Armut, hohes Alter und geringe Bildung die Hauptursachen für Non-Compliance sind – mit fatalen Folgen für das Individuum und die Gesellschaft. Etwa die Hälfte der verordneten Tabletten und Tropfen lagern ungenutzt in deutschen Hausapotheken. Die Konsequenzen dieser Non-Compliance sind grundsätzlich bekannt: erhöhte Sterblichkeit aufgrund von Komplikationen, Notfallbehandlungen und Klinikeinweisungen und damit vermeidbare Kosten. Quantitativ untersucht sind die Folgen für Deutschland bislang kaum. In den USA hat sich kürzlich die American Medical Association (AMA) des Themas unzureichende Medikamenteneinnahme angenommen und sie zu einem Diskussionsschwerpunkt gemacht (1, 2, 3, 4). Parallelen zu den Ursachen der Non-Compliance in den USA gebe es auch in Deutschland, betonte Prof. Dr. rer. pol. Rolf Rosenbrock, Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Im Fokus der US-amerikanischen Studien stand das Einnahmeverhalten in der Normalbevölkerung. Eine Untersuchung an mehreren Herzzentren ging der Therapietreue von Herzinfarktpatienten (n = 1 521) nach Abschluss der stationären Akutbehandlung auf den Grund. Die Standardtherapie bei Entlassung bestand aus der Kombination von Acetylsalicylsäure (ASS), einem Betablocker und einem Statin (1). Nahezu jeder Achte (n = 184) setzte alle drei Arzneien bereits im ersten Monat nach Klinikaufenthalt ab, fast jeder Fünfte (n = 272) mindestens eines der drei Medikamente. Vor allem ältere, ärmere und weniger gebildete Bürger nahmen ihre Tabletten nicht längere Zeit regelmäßig ein. Defizite gab es vor allem beim Übergang von der stationären in die ambulante Behandlung – eine auch im deutschen Gesundheitswesen problematische Schnittstelle. Die Folgen unzuverlässiger Tabletteneinnahme sind für Herzinfarktpatienten enorm: Wer nur eins von drei Medikamenten weglässt, erhöht sein Sterblichkeitsrisiko. Etwa jeder 17. Tod im ersten Jahr nach Myokardinfarkt wäre in den USA vermeidbar, wenn die Patienten compliant wären: - Verzichten die Betroffenen auf ASS, sank ihre Überlebensrate im ersten Jahr von 97 auf 91 Prozent, - beim Weglassen der Betablocker verringerte sie sich von 97,2 auf 91,6 Prozent und - beim Abbruch der Statintherapie von 97,8 auf 91,2 Prozent. - Nahmen die Patienten keines der Medikamente mehr ein, sank die Überlebensrate zwölf Monate nach Myokardinfarkt von 97,7 Prozent (regelmäßige Dreifachtherapie) auf 85,5 Prozent. Abgleich der Verschreibungs- und Rezepteinlösedaten Non-Compliance erhöht nicht nur die Mortalität nach Myokardinfarkt, sondern führt auch zu signifikant häufigeren Koronarereignissen, die Dilatationen, Stent-Implantationen oder Operationen erforderlich machen. Dies belegt eine Metaanalyse von 13 Studien über die Wirksamkeit von Lipidsenkern, in die 17 963 Probanden eingeschlossen waren (2). Demnach kann eine rasch einsetzende, anhaltende Behandlung von Infarktpatienten mit Lipidsenkern das Auftreten späterer Angina-pectoris-Anfälle, Herzkatheteruntersuchungen und Gefäßdilatationen sowie die Zahl der Todesfälle in den ersten zwei Jahren nach Infarkt um etwa 20 Prozent senken – die Einnahme der vollen Dosis vorausgesetzt. Dieser Effekt ist in den ersten vier Monaten nach dem Akutereignis noch nicht zu beobachten, aber ein halbes bis mindestens zwei Jahre danach konstant nachweisbar. Bei Diabetikern, die eine Kombinationstherapie aus Blutzuckersenkern, Antihypertensiva und Lipidsenkern erhielten, war es ähnlich (3): Der Abgleich der Verschreibungs- und Rezepteinlösedaten der größten US-Gesundheitsorganisation Kaiser Permanente ergab, dass mehr als jeder fünfte dort versicherte und erfasste Diabetiker nicht compliant war. Eine unvollständige Therapie war eher bei jüngeren Patienten zu beobachten. Trotz ihres Altersvorteils hatte diese Gruppe mehr Begleiterkrankungen, eine höhere Gesamtsterblichkeit (5,9 gegenüber 4,0 Prozent) und häufiger Krankenhausbehandlungen (23,2 gegenüber 19,2 Prozent). Klinisch führte das Absetzen eines oder mehrerer Medikamente nicht nur zu schlechteren HbA1c-, Blutdruck- und LDL-Werten, sondern war auch mit einem deutlich erhöhten Komplikationsrisiko verbunden. Für alle Patientengruppen und alle Formen der Non-Compliance lagen das Risiko für stationäre Aufnahmen und die Mortalität signifikant höher als bei Diabetestherapien gemäß den ärztlichen Empfehlungen. Eine Hürde, vor allem für chronisch Kranke mit niedrigem Einkommen, sind Medikamentenzuzahlungen. Das ergab die Untersuchung des Einnahmeverhaltens von knapp 14 000 Mitgliedern der öffentlichen US-Krankenkasse Medicare. Selbstbeteiligungen bergen die Gefahr, vermeidbare Folgeerkrankungen zu verursachen und dadurch das Gesundheitssystem erheblich stärker zu belasten (4). Erst im Juni 2006 hatte eine im New England Journal of Medicine (354: 2349–59) publizierte Studie ergeben, dass eine Deckelung der Kostenübernahme für Arzneimittel bei chronisch Kranken zu verminderter Tabletteneinnahme führt (5). Die Folge sind häufigere Notfall- und Krankenhausbehandlungen – nicht aber die gewünschte Kostendämpfung (6). Eine Anfang 2007 im Journal of the American Medical Association veröffentlichte Untersuchung (297:1063–72) bestätigt erneut, dass sich Eigenbeteiligungen negativ auf den Krankheitsverlauf von Herzinfarktpatienten auswirken (7). Schon frühere Untersuchungen aus den USA (8), Kanada (9), Australien (10), Schweden (11) und anderen Industrieländern hatten auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Die internationalen Erfahrungen sind auf Deutschland übertragbar, ergaben Umfragen des Bertelsmann-Gesundheitsmonitors (12). Die Ursache für schlechte Compliance liegt nach Auffassung der US-amerikanischen Kollegen weniger bei den Patienten (13). Außer finanziellen Ursachen infolge von Selbstbeteiligungen, die vor allem ärmere und multimorbide Personen von der Einhaltung verordneter Arzneitherapien abhalten, treffe die Ärzte eine Mitverantwortung für die Misere: Oft klärten sie ihre Patienten nicht ausführlich genug auf über neu verschriebene Arzneimittel, die Dauer der Einnahme und mögliche unerwünschte Wirkungen (14). „Unzureichende Patienteninformation ist auch hierzulande ein Problem“, meint Rosenbrock. Die Gebührenordnung honoriere Bemü-hungen darum kaum adäquat. „Deshalb haben wir in unseren Gutachten immer wieder betont, dass ‚compliance‘ auch eine Bringschuld des Versorgungssystems ist.“ Der Zusammenhang zwischen schichtspezifischen Behandlungsproblemen und vermeidbaren Kosten zeigt, wie Effizienz im Gesundheitswesen und soziale Gerechtigkeit miteinander verbunden sind. In Deutschland leiden Menschen aus den unteren Sozialschichten im Durchschnitt sieben Jahre früher an einer chronischen Krankheit als Menschen, die nicht als sozial benachteiligt gelten können. „Hier liegt ein Erfolg versprechender Ansatz für die medikamentöse Sekundärprävention“, sagt Rosenbrock. „Es ist vom Ansatz her grundfalsch, immer zuerst die Schuldfrage zu stellen. Viel wichtiger ist die Frage‚wie es besser funktionieren könnte.“

Die Literaturangaben zu diesem Artikel finden Sie im Deutschen Ärzteblatt online.

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