Jens Holst
Deutsche Zusammenfassung: Wachsender Kostendruck und die Forderung nach mehr „Eigenverantwortlichkeit“ lassen allerorten den Ruf nach höheren Selbstbeteiligungen von Patienten laut werden. Wirtschaftstheoretische Begründungen und die gefühlte Wahrnehmung vieler Ärzte scheinen für eine stärkere Steuerung der Inanspruchnahme des Gesundheitswesens zu sprechen, um der „Vollkasko-Mentalität“ und dem „moral-hazard“-Verhalten der Patienten entgegen zu wirken.
Hintergrund: Obwohl die Debatte in Deutschland seit Einführung der Praxisgebühr und spürbarer Erhöhungen der Arzneimittelzuzahlungen intensiver geworden ist, liegen hierzulande vergleichsweise wenig empirische Ergebnisse vor. Ein Blick in andere Länder mit längerer Erfahrung und vor allem mit wechselnden Selbstbeteiligungsbedingungen verspricht wichtige Erkenntnisse über erwünschte und unerwünschte Wirkungen von Zuzahlungen.
Methode: Eine intensive Literaturrecherche unter Zuhilfenahme von Suchmaschinen des World Wide Web und der Bibliografien gefundener Studien lieferte weit über 2000 Literaturstellen mit Bezug auf Patientenzuzahlungen im Gesundheitswesen. Es erfolgte eine Auswahl von Studien vorwiegend aus international anerkannten gesundwissenschaftlichen Publikationen, die den Auswirkungen von Zuzahlungen auf Prävention/Gesundheitsförderung und medikamentöse Therapie in Industrieländern nachgingen. Der vorliegende Beitrag stellt die Synthese der Auswertung dieser Artikel unter besonderer Berücksichtigung von klinisch-epidemiologischen Ansätzen und empirischen Befunden der Versorgungsforschung dar.
Ergebnis: Umfangreiche internationale Erfahrungen mit Eigenbeteiligungen im Gesundheitswesen unterstreichen nachdrücklich bestehende Zweifel an den theoretischen Begründungszusammenhängen für die Anwendung von Patientenzuzahlungen. Mit Zuzahlungen im Krankheitsfall lässt sich nicht zwischen sinnvollen und überflüssigen Gesundheitsleistungen unterscheiden. Vielmehr gefährden sie die Gesundheit und die soziale Absicherung der Gesamtbevölkerung. Anstelle der angestrebten rationalen Steuerung des Inanspruchnahmeverhaltens im Gesundheitswesen erzeugen Selbstbeteiligungen vor allem unerwünschte Effekte: Sie gefährden den Erfolg medizinischer Behandlungen, sie diskriminieren ältere und arme Patienten und sie sind mit der Gefahr verbunden, letztlich höhere Gesamtausgaben zu verursachen.
Schlussfolgerung: Patientenzuzahlungen verursachen beachtliche Fehlsteuerungen im Gesundheitswesen und erweisen sich unter Gesichtspunkten der klinischen Epidemiologie und der Versorgungsforschung als gesundheitsschädlich.
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English abstract: Increasing cost pressure and the request for more self-responsibility are arousing everywhere the cry for higher patient cost sharing. Theoretical economic rationales and the felt perception of many physicians seem to mitigate in favour of a stronger control of the utilisation of the health care system in order to prevent comprehensive cover mentality and patients’ moral hazard.
Background: Although in Germany the debate has become more intensive since the implementation of charges for medical registration and the noticeable rise of drug co-payments, empirical evidence is scarce in this country. A view in other countries with longer experience and especially with changing cost-sharing conditions is promising to deliver relevant insights into desired and undesired effects of co-payments.
Methods: An intensive literature research with the aid of world wide web search engines and bibliographical data contained in papers at hand provided far more than 2,000 publications related to cost sharing in health. A selection of research papers mainly published in internationally recognised journals of health sciences was carried out in order to identify the studies on effects of co-payments on prevention/promotion and drug therapy in industrialised countries. This paper represents a synthesis of these papers in special consideration of clinical-epidemiological approaches and empirical health service research findings.
Result: Substantial international experience with cost sharing in health underpins emphatically existing doubts on theoretic rationales used for applying patient co-payments. Patient cost sharing is unable to distinguish between “rational” and “frivolous” use of health services. Co-payments rather put in danger the health status and the social protection of the total population. Instead of the aspired rational steering of the utilisation of health services co-payments rather create mainly undesired effects. They endanger the success of medical treatments, they discriminate against the elderly and the poor, and they ultimately they entail higher overall expenditure.
Conclusion: Patient cost sharing causes considerable disorders of the health care system. In view of the criteria of clinical-epidemiology and health service research co-payments turn out to be harmful to health.
Patientenzuzahlungen gehören seit vielen Jahrzehnten zum Standardrepertoire von Gesundheitsreformern. Eigenbeteiligungen im Krankheitsfall sollen zusätzliches Geld ins System bringen und das Inanspruchnahmeverhalten der Versicherten oder Patienten steuern. Allerdings hemmen sich beide Effekte gegenseitig: Je höher die Zuzahlung, desto stärker sinken die Nutzung und damit die Einnahmen. Und je niedriger die Patientenzahlungen sind, desto geringer wiederum ist die Steuerungswirkung.
Als Begründung für Selbstbeteiligungen dient heute in erster Linie das über 30 Jahre alte RAND-Experiment. Der Vergleich zwischen verschiedenen Versicherungsverträgen in den USA ergab: Je höher der finanzielle Belastung der Patienten, desto geringer die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Seither gelten Zuzahlungen als Mittel der Wahl zur nach-frageseitigen Kostendämpfung – obwohl die RAND-Studie nur einen kleinen Teil der Versicherten erfasste, ältere Menschen ausschloss, die Anbieterseite vernachlässigte und langfristigen Effekte gar nicht erfasste [1].
Die dankbar von der Politik aufgenommene, wirtschaftstheoretische begründete Forderung nach mehr finanzieller „Eigenverantwortlichkeit“ deckt sich zwar mit dem subjektiven Empfinden von Ärzten, die vielfach eine Übernutzung ihres Versorgungsangebots spüren. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich die hinter Selbstbeteiligungen stehende ökonomische Theorie indes als bloßer Glaubenssatz, der vor allem auf der Vorstellung beruht, Menschen verhielten sich rational, verfügten über ausreichende Information und wären sich aller Folgen ihrer Entscheidung bewusst [2]. Sind diese Annahmen schon auf „normalen“ Märkten zweifelhaft, stehen sie in klarem Widerspruch zu den Bedingungen im Gesundheitswesen. Kennzeichnend sind dort Informationsasymmetrie und weit gehende Unkenntnis medizinischer Laien - erst kürzlich belegte eine Untersuchung aus der Schweiz die allgemeine Unwissenheit selbst über häufige Krankheiten [3]. Solange nicht die ganze Bevölkerung Medizin studiert hat, ist sie schwerlich in der Lage zu entscheiden, ob es sich die Ausgaben für Arztbesuche oder Medikamente „rentieren“. Die Folgen einer „Konsumentscheidung“ im Gesundheitswesen können allenfalls Experten mit entsprechendem Fachwissen abschätzen, zumeist erst nach entsprechenden Untersuchungen.
Mittlerweile belegt eine wachsende Studienfülle, dass die wirtschaftstheoretischen Begründungen für Patientenzuzahlungen einer empirischen Überprüfung in keiner Weise Stand halten. Die unterstellte Unterscheidbarkeit zwischen „sinnvoller“ und „überflüssiger“ Inanspruchnahme erweist sich als völlig realitätsfremd; und die klinische Praxis zeigt, dass Zuzahlungen im Krankheitsfall keineswegs Einsparungen zur Folge haben müssen, sondern vielfach die Kosten in die Höhe treiben. Dieser Beitrag untersucht die Auswirkungen von Selbstbeteiligungen auf zwei wesentlichen Feldern der allgemeinärztlichen Tätigkeit, nämlich der Krankheitsvermeidung bzw. –vorbeugung und der Arzneimitteltherapie vorwiegend bei chronischen Krankheiten.
Effekte von Zuzahlungen auf Prävention und Gesundheitsförderung
Nicht nur aus algemeinmedizinischer, sondern auch aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht kommt den Auswirkungen von Eigenbeteiligungen auf die Annahme von Angeboten zur Prävention und Gesundheitsförderung besondere Bedeutung zu. Nicht nur die RAND-Studie [5, 6], sondern auch eine Reihe anderer Untersuchungen [7, 8, 9, 10] zeigten, dass die Einführung von Zuzahlungen die Inanspruchnahme vieler Vorbeugemaßnahmen verringert. Anderes herum steigt nach Wegfall der Zuzahlungspflicht für Vorsorge- und Screening-Untersuchungen die Nutzung durch die betroffenen Personen [11, 12, 13]. Wie im anschließenden Kapitel näher ausgeführt, gilt dies auch für mittel- oder gar langfristige Therapien im Sinne der Sekundär- und Tertiärprophylaxe.
Ein Fazit:
Nicht nur die vorletzte Gesundheitsreform in Deutschland, die Einführung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG), erfolgte ohne systematische wissenschaftliche Begleitforschung. So lassen sich die Auswirkungen neuer und erhöhter Zuzahlungen nur bedingt empirisch erfassen und die gesundheitspolitischen wie –ökonomischen Folgen nur schwer bemessen. Die Datenlage aus anderen Ländern ist hingegen erheblich umfangreicher und aussagekräftiger, insbesondere aus den USA und Kanada, aber auch aus anderen europäischen Ländern.
Selbstverständlich hat jedes Land sein eigenes Gesundheitswesen, das historisch gewachsen ist und gesellschaftliche Prioritäten widerspiegelt. Doch trotz aller Unterschiede sind die Problemstellungen sowie die Hauptlinien sozialpolitischer Debatten und gesundheitspolitischer Reformen im internationalen Vergleich erstaunlich ähnlich. Und auch die ökonomische Theorie postuliert ja universelle Verhaltensmuster der Menschen, unabhängig von ihrem kulturellen und sozialen Hintergrund. In der Tat ist es überaus zweifelhaft, dass sich Menschen aus verschiedenen Weltregionen so grundsätzlich unterschiedliches Verhalten in Bezug auf Grundbedürfnisse wie Gesundheit an den Tag legen, dass kein länderübergreifender Vergleich möglich ist.
Zwar haben gerade die USA ein ganz anderes Gesundheitswesen als die Länder Europas und als Kanada; allerdings ist die Einordnung als vorwiegend privatwirtschaftliches System angesichts einer Staatsfinanzierung von mittlerweile mehr als 50 % in Frage zu stellen. Ein Großteil öffentlicher Gelder geht in die Finanzierung der Versorgung armer und alter US-Bürger, auch wenn diese wechselnde Selbstbeteiligungen beisteuern müssen. Das kanadische Gesundheitswesen ist überwiegend steuerfinanziert, die Versorgung ist indes der in Deutschland ähnlich strukturiert, und die genauen Zahlungsbedingungen variieren stark zwischen den verschiedenen Provinzen. In Europa halten sich steuerfinanzierte und Sozialversicherungssysteme annähernd die Waage, beide weisen ihre eigenen Stärken und Schwächen auf.
Unabhängig von der jeweiligen Ausgestaltung des Gesundheitswesens sind die messbaren Wirkungen von Patientenzuzahlungen nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis überraschend einheitlich. Wenn Selbstbeteiligungen in verschiedenen US-Staaten und kanadischen Provinzen, in Italien, Frankreich, Schweden, Dänemark und der Schweiz gleichförmige Effekte zeigen, erscheint es überaus unwahrscheinlich, dass die Deutschen gänzlich anders auf die Versuche der nachfrageseitigen Steuerung über das Portemonnaie reagieren. Die internationalen Erfahrungen legen nahe, bis zum empirischen Beweis des Gegenteils ist auch hierzulande davon auszugehen, das Zuzahlungen im Krankheitsfall schädigenden Einfluss auf die Gesundheit zumindest eines Teils der Bevölkerung haben und einem gesundheitspolitischen Kernziel demokratischer Gesellschaften, der Überwindung sozialer Ungleichheit, zuwiderlaufen.