Dr. Dr. Jens Holst, international consultant - health expert

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07.03.2000

Pinochet - Einem Prozess nicht mehr gewachsen

Gutachten belegt seriös den Hirnabbau beim Ex-Diktator

Jens Holst
Das rüstige Auftreten des Augusto Pinochet nach der Heimkehr nach Santiago ist von Beobachtern in aller Welt als Beweis dafür interpretiert worden, dass der Ex-Diktator keineswegs so krank sei, wie es das medizinische Gutachten über ihn unterstellt. Doch auch wenn man davon ausgeht, dass der Patient es darauf angelegt haben dürfte, den Ärzten Gebrechlichkeit zu demonstrieren das Gutachten über ihn enthält seriöse Belege dafür, dass Pinochet tatsächlich als verhandlungsunfähig eingestuft werden muss.

Obwohl der britische Innenminister Jack Straw das Gutachten lange unter Verschluss zu halten versuchte, waren erste Einzelheiten der Untersuchung vom 5. Januar schon wenig später an die Öffentlichkeit gelangt. Die als Pinochet-freundlich bekannte chilenische Zeitung "El Mercurio" druckte eine Diagnosenliste ab, die zwar korrekt und vollständig erschien, an entscheidenden Punkten indes überaus schwammig formuliert war und außerdem sofort den Verdacht aufkommen ließ, der General habe kurz vor der Untersuchung Medikamente abgesetzt und so die Untersuchung manipuliert. Umso mehr drängten Spanien, Frankreich, die Schweiz und vor allem Belgien, die allesamt die Auslieferung Pinochets beantragt hatten, das komplette Gutachten einsehen zu dürfen.

Als Straw Mitte Februar nachgab und den vier Ländern Einsicht in die Krankenakte gewährte, sorgten undichte Stellen im spanischen Außenministerium postwendend dafür, dass weite Teile des Gutachtens an die Öffentlichkeit gelangten. Darin werden die britischen Mediziner mit den Worten zitiert, Pinochet "wäre nicht in der Lage, die rechtliche Komplexität eines Gerichtsverfahrens durchzustehen".

Folge von Diabetes

Die Fachleute begründen diese Einschätzung mit dem fortschreitenden Abbauprozess im Hirn des Ex-Diktators. Computertomografisch wurden "lakunäre Infarkte" und eine mäßige Verringerung der grauen Substanz nachgewiesen.

Bekanntermaßen leidet der 84-jährige seit mehreren Jahren an Alterszucker. Der Hirnabbau ist als Folge dieser chronischen Stoffwechselkrankheit anzusehen. Alle Diabetiker zeigen über kurz oder lang Veränderungen der kleinsten Blutgefäße, und es kommt zu Durchblutungsstörungen nicht nur im Gehirn, sondern auch in anderen Organen und den Beinen.

Zwar besteht zwischen Hirnmasse und intellektueller Fähigkeit kein unmittelbarer Zusammenhang, die eingehendere neuropsychologische Untersuchung Pinochets erbrachte jedoch eine klare Diagnose: Senile Demenz, zu deutsch: Altersschwachsinn. Die Gutachter bescheinigen Pinochet Störungen des Lang- und Kurzzeitgedächtnisses, Verständnisprobleme bei komplexeren Zusammenhängen, eine umschweifige, unpräzise Ausdrucksweise und rasche Ermüdbarkeit.

Das Gutachten enthält Befunde, die den geistigen Abbauprozess objektiv beweisen. So zeigte der General bei der neurologischen Untersuchung zwei Reflexmuster, die bei Neugeborenen vorhanden sind, während des Wachstums verschwinden und erst bei merklichem Abbau der Hirnrinde wieder auftreten. Die britischen Ärzte stützen ihr Verdikt der Prozessunfähigkeit denn auch in entscheidendem Maße auf den geistigen Zustand des Patienten und nicht auf dessen körperliche Gebrechen. Dass sich Pinochet in Santiago aus dem Rollstuhl erheben und seine Anhänger stehend begrüßen konnte, widerlegt sie daher in keiner Weise.

Der chilenische Untersuchungsrichter Juan Guzman hat am Montag offiziell die Aufhebung der Immunität des Ex-Diktators Augusto Pinochet beantragt. Guzman bearbeitet insgesamt 61 Strafanzeigen gegen Pinochet.

Nachzulesen in der Berliner Zeitung vom 7. März 2000