Dr. Dr. Jens Holst, international consultant - health expert

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01.03.2002

Markt falscher Versprechungen

Chiles neoliberale Gesundheitsreform

Von Jens Holst

von Jens Holst

Die Dame im Versicherungsbüro war damals so freundlich und erzählte uns, dass wir als Cruz-Blanca-Kunden bei einem niedergelassenen Arzt nicht mehr warten müssten“, erinnern sich Carlos und Maite heute. „Hätten wir gewusst, wie teuer die Geburt wird, dann wären wir einer besseren Versicherung beigetreten.“ Leichter gesagt als getan, wer kann schon wissen, welche Krankenkasse besser ist? In Chile blickt nämlich niemand mehr durch die unüberschaubare Auswahl an Verträgen, Sonderabkommen und versicherungsinternen Sonderkonditionen durch. Vor allem die Leistungseinschränkungen stellen die VerbraucherInnen vor ein undurchschaubares Rätsel. Der viel gerühmte Wettbewerb auf dem Markt für Krankenversicherungsleistungen ist völlig intransparent und nur ansatzweise von unabhängigen oder staatlichen Stellen kontrollierbar.

Und für jemanden wie den Facharbeiter Carlos kommt noch ein anderes Problem hinzu. Bei seinem monatlichen Pflichtbeitrag von 29 Euro, sieben Prozent seines Monatslohns, ist das Angebot an Versicherungsverträgen ausgesprochen dürftig. Hätte Carlos jeden Monat 1000 Euro in seiner Lohntüte, könnte er indes zwischen einer erheblich größeren Zahl von Policen auswählen. Dann wäre auch ein Vertrag bezahlbar, bei dem die Kosten stationärer Behandlungen in vollem Umfang übernommen werden. Doch die unteren Lohngruppen hatten die Väter der chilenischen Gesundheitsreform gar nicht im Blick, als sie zur Reform des Gesundheitswesens antraten. Auch bei der größten Assekuranzgesellschaft in Chile, Consalud, hätte Sandras Geburt 223 Euro gekostet, ein Drittel der Gesamtkosten. Nur bei der öffentlichen Krankenkasse FONASA hätten Sandras Eltern mit 50 Euro weniger zuzahlen müssen. Dort waren sie versichert, bevor Carlos seine jetzige Stelle bekam. Doch lange Wartezeiten in den Polikliniken und die Aussicht auf Mehrbettzimmer in den meist ärmlichen öffentlichen Krankenhäusern hatten sie abgeschreckt. Mit dem Beitritt zu Cruz Blanca wollten sie endlich auch einmal in den Genuss kurzer Wartezeiten und besseren Komforts bei Privatärzten und -kliniken kommen.

Über zwanzig Jahre sind vergangen, seit die marktradikalen ReformerInnen unter der Diktatur von Augusto Pinochet in Chile ein zweigliedriges Gesundheitssystem einführten. Etwa zeitgleich mit der Umstellung der Rentenversicherung vom Umlage- auf ein reines Kapitaldeckungsverfahren erfolgte 1981 eine Teilprivatisierung der Krankenversicherung. Im Rahmen ihrer umfassenden marktradikalen Strukturanpassung ließen die „Chicago-Boys“ des Regimes neben der öffentlichen Krankenkasse Fondo Nacional de Salud (FONASA) privatwirtschaftliche Instituciones de Salud Previsional (ISAPREs) als Träger der sozialen Sicherung zu. Der Abschluss einer Krankenversicherung blieb dabei für alle abhängig Beschäftigen und Rentner obligatorisch. Aber heute können die ChilenInnen im Prinzip selber bestimmen, ob sie sich FONASA oder einer Privatversicherung anschließen. In der Praxis unterliegt diese Wahlfreiheit indes erheblichen Einschränkungen. Für die unteren Einkommensgruppen bietet der private Versicherungsmarkt nämlich gar keine Verträge. Wer nur 200 oder 250 Euro verdient, müsste für eine private Versicherungspolice erheblich mehr als den Pflichtbeitrag von sieben Prozent des Bruttolohns bezahlen. Allein das würde bei vielen Familien riesige Löcher in die Haushaltskasse reißen. Und jedes Mal, wenn jemand krank wird, müssen sie noch einmal tief in die Tasche greifen. Denn bei den preiswerten Verträgen müssen die Versicherten erheblich draufzahlen, so wie Carlos und Maite bei der Geburt ihrer Tochter.

Frauen und Ältere zahlen mehr

Während die öffentliche Krankenkasse FONASA nach dem Solidarprinzip funktioniert, wo sich die Beiträge nach dem Einkommen, die Leistungen aber nach der Bedürftigkeit richten und die Solidargemeinschaft die unterschiedlichen Risiken ausgleicht, arbeiten die ISAPREs nach dem Äquivalenzprinzip, wo der individuelle Versicherungsschutz allein von der Höhe der Monatsprämie abhängt. Wie eine Sachversicherung kalkulieren sie ihre Tarife nach den erwarteten Kosten an Hand von Risikofaktoren und der Basisprämie für das jeweilige Vertragsmodell. Die Faktoren steigen exponentiell mit dem Lebensalter und erreichen bei Frauen auch im gebärfähigen Alter teils extrem hohe Werte. Eine Beitragsänderung tritt immer dann ein, wenn der Beitragszahler oder ein mitversichertes Familienmitglied eine Altersgrenze für die Risikofaktoren überschreitet. Denn die ISAPREs dürfen ihre „Gesundheitspläne“ alle zwölf Monate an neue Bedingungen anpassen. Ist der Versicherte nicht mit Beitragserhöhungen einverstanden, hat ihm die Versicherung einen „gleichwertigen“ Vertrag anzubieten.

So kommt es, dass mindestens die Hälfte aller privat krankenversicherten ChilenInnen heute „freiwillig“ einen höheren Krankenkassenbeitrag bezahlt, im Durchschnitt über 8,5 % ihres Einkommens. Die risikoabhängige Beitragsgestaltung trägt damit zu einer Verteuerung der individuellen Gesundheitsausgaben bei. Spätestens mit der Berentung werden die Prämien aber selbst für Besserverdienende unerschwinglich. Nicht einmal jede/r 25. ChilenIn über 65 Jahren kann sich noch in einer ISAPRE versichern. Die ISAPREs streichen im jüngeren Alter die Prämien ein, solange sie vergleichsweise wenig Ausgaben aufbringen müssen. Ihrer alternden Mitglieder können sie sich elegant und völlig legal entledigen, bevor sie höhere Kosten verursachen. Das ist eine der großen Ungerechtigkeiten des chilenischen Systems, schließlich fallen die höchsten Gesundheitsausgaben in den letzten Lebensjahren an.

Aus dem Nebeneinander einer öffentlichen Solidarversicherung und individueller Privatversicherungen in Chile ergeben sich noch andere Schieflagen. Die ISAPREs betreiben nicht nur eine strikte Risikoselektion, sondern zugleich eine regelrechte Rosinenpickerei, indem sie nur die wohlhabendere Mittel- und die Oberschicht versichern. Trotz jahrelang steigender Wachstumsraten des südamerikanischen „Jaguars“ bleibt über die Hälfte der Bevölkerung faktisch von der vielgerühmten Wahlfreiheit ausgeschlossen. Der Vorsitzende des Privatversicherungsverbandes, René Merino, erkennt darin aber kein Problem: „Die ISAPREs sind für die Leute da, die es bezahlen können. Der Staat kann bei den Ärmsten, den Chancenlosen und Hilfsbedürftigen einspringen.“

Deren Anteil sank seit der Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen offiziell von 40 auf etwa 25 Prozent. Die Mittellosen sind beitragsfrei über FONASA abgesichert und haben Anspruch auf kostenlose Behandlung in den öffentlichen Einrichtungen. Die Privatversicherungsbranche schließt jedoch nicht nur sie aus, sondern auch die große Masse der schlecht bezahlten ArbeitnehmerInnen. So verdienen zwei Drittel der BeitragszahlerInnen von FONASA weniger als 200 Euro im Monat, nur eineR von zehn hat mehr als 400 Dollar in der Lohntüte. Damit liegen 90 Prozent der Monatsbeiträge unter 28 Dollar, während die durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben des öffentlichen Gesundheitswesens etwa 230 Euro erreichen. Der Staat muss also kräftig zubuttern und den Haushalt der öffentlichen Krankenkasse bestreitet er sogar zur Hälfte aus Steuermitteln.

Solange die chilenische Volkswirtschaft stabile Wachstumsraten zeigte, schien die Rechnung der privaten Krankenversicherungsbranche aufzugehen. Im Spitzenjahr 1997 war mit fast 3,9 Millionen mehr als jedeR vierte ChilenIn in einer ISAPRE versichert. Doch als die Asien- und Russlandkrise nach Südamerika überschwappte, zeigte sich die Anfälligkeit des chilenischen Modells. Wer arbeitslos wird, den versichert seine Privatkasse noch drei Monate beitragsfrei weiter. Doch dann ist endgültig Schluss, von da an ist FONASA zuständig. „Das chilenische Krankenversicherungswesen ist ein System kommunizierender Röhren, das den Wirtschaftzyklen folgt,“ erklärt Héctor Sánchez, erster Leiter der staatlichen Versicherungsaufsicht. „Beim Aufschwung wachsen die ISAPREs enorm an, bei Rezessionen verlieren sie viele Kunden.“

Ruinöse Selbstbeteiligungen

ISAPRE-Verbandschef Merino hält das für die natürlichste Sache der Welt. Von einer Einschränkung des Versicherungswechsels zur Entlastung der öffentlichen Hand von konjunkturell bedingten Kostensteigerungen will er nichts wissen. „Derartige Maßnahmen erscheinen mir absurd. Das ist eine Form, über die Leute zu bestimmen, die mir überhaupt nicht zusagt. Wir wollen mehr Freiheit.“ Der Glaube an die Allmacht eines weitgehend deregulierten Marktes und die Vorstellung von einem bloß subsidiären Staat sind in Chile bis heute tief in den Köpfen verankert. So konnte die Privatversicherungsbranche lange Jahre weitgehend unkontrolliert ihre Strategien entwickeln und mit verschiedenen Modellen am lebenden Objekt experimentieren. Todesfälle in Folge verweigerter Behandlungen bei ungeklärten Versicherungsverhältnissen kommen zwar seit der Einführung einer Notfallbehandlungspflicht nicht mehr vor. Aber immer wieder stürzen kranke Menschen wegen eines Tumors, einer Herzoperation oder einer psychischen Erkrankung in den Ruin. Auch die FONASA-Versicherten müssen ab einem bestimmten Einkommen 10 oder 20 Prozent der Therapiekosten selber tragen. Doch ISAPRE-Mitglieder sind größeren Unwägbarkeiten bei der Selbstbeteiligung im Krankheitsfall ausgesetzt. „Eine Erkrankung kann jemanden leicht 25 oder 30 000 Dollar kosten, der nur 1000 im Monat verdient“, bestätigt Hernán Sandoval, der Leiter der chilenischen Reformkommission im Gesundheitsministerium, „das stellt die Betroffenen vor unlösbare Probleme.“

Überhaupt sichern die Klauseln fast aller Versicherungsverträge den ISAPREs teils drastische Haftungsbeschränkungen bei ambulanten Behandlungen, Medikamenten und häuslicher Krankenpflege. Besonders tief müssen Patienten mit chronischen und psychiatrischen Krankheiten in die eigene Tasche greifen. Einige Versicherer verlangen Zuzahlungen bis 80 oder 90 Prozent der Behandlungskosten. Damit erweist sich die private Krankenkassenbranche als schlecht gerüstet für die zukünftigen Erfordernisse der Gesellschaft in einem typischen Schwellenland, wo die Menschen immer älter werden und chronisch-degenerative Erkrankungen in den Vordergrund gerückt sind. Nach langem Sträuben haben die Privatversicherungen nun zumindest eine Zusatzversicherung gegen schwere Erkrankungen wie Krebs, Nierenversagen und lebensbedrohliche Herzkrankheiten ins Leben gerufen. Mit Ausnahme von Consalud kostet das bei allen ISAPREs extra, im Durchschnitt drei, in Einzelfällen bis zu 65 Dollar im Monat. Diese längst überfällige Ausweitung des Versicherungsschutzes soll bis Mai 2002 flächendeckend umgesetzt sein. Bisher trägt diese Maßnahme in erster Linie zur weiteren Verwirrung der Versicherten bei und stößt zudem auf Ablehnung, weil sich die Zusatzversicherung gegen „katastrophale Erkrankungen“ nur auf Behandlungen in Vertragshospitälern bezieht. Das sind in vielen Fällen Uni-Kliniken und öffentliche Krankenhäuser. Wenn es darum geht, die eigenen Gewinne zu sichern, hat die Branche keine Schwierigkeiten, die Wahlfreiheit ihrer Versicherten zu opfern.

„Die ISAPREs sind Versicherungen, die gar nicht versichern“, fasst der ministerielle Reformer Hernán Sandoval seine Kritik am bestehenden System zusammen. „Es sind eher Versicherungen für Gesunde als für Kranke. Viele Verträge sehen besseren Versicherungsschutz bei ambulanten Behandlungen als bei einer schweren Erkrankung vor.“ Damit weist der Arbeitsmediziner auf ein anderes Grundproblem des Kassenwettbewerbs hin, das Fachleute als Intransparenz des Gesundheitsmarktes bezeichnen. Die auffällige Unwissenheit und Verunsicherung der ISAPRE-KundInnen über ihre Absicherung im Krankheitsfall ist der Regierung von Präsident Ricardo Lagos ein besonderer Dorn im Auge. Seine Mitte-Links-Koalition brachte Ende 2001 ein Gesetz über die Patientenrechte ins Parlament ein, um die Position der „KundInnen des Gesundheitswesens“ zu stärken. In den letzten Jahren hat die Versicherungsbranche zwar zunehmend integrierte Versorgungspläne auf den Markt gebracht, die bei stationären Behandlungen keine Eigenbeteiligung für die Patienten vorsehen. Dabei dürfen sich die Versicherten aber auch hierbei nur in den Vertragskliniken behandeln lassen, in anderen Krankenhäusern erwarten sie horrende Selbstbeteiligungen.

Bisher tragen die Versicherten in Chile das größte Risiko. Abhilfe kann nur ein umfassendes Paket von garantierten Gesundheitsleistungen schaffen, deren Kosten vollständig von allen Versicherungen übernommen werden müssen. Die bisherige Gesundheitsministerin Michelle Bachelet hatte für ihr Reformprojekt die Festlegung eines solchen Pflichtkatalogs medizinischer Leistungen angekündigt. Denn heute erweist es sich als besonders problematisch, dass die Liberalisierung des chilenischen Krankenversicherungsmarktes ohne entsprechende Verbindlichkeiten erfolgte. Die ISAPREs sind zwar gesetzlich verpflichtet, in ihren Verträgen den gesamten Katalog abzudecken, den FONASA seinen Versicherten bietet. Allerdings schreibt das Gesetz nicht vor, in welchem Umfang die Privatversicherungen die Einzelleistungen übernehmen müssen. Erst im November 2000 entschied der Oberste Gerichtshof in Santiago in letzter Instanz, die Mindestdeckung müsse sich für jede einzelne Leistung auf 50 Prozent des niedrigsten vergleichbaren FONASA-Satzes belaufen. Bis dahin war der Form Genüge getan, wenn die ISAPRE nur einen einzigen Peso einer Behandlung übernahm und den Rest dem Patienten überließ.

Wie beim Zugang zum privaten Versicherungsmarkt zeigt sich auch bei der Kostenübernahme im Krankheitsfall eine klare Benachteiligung der unteren sozialen Schichten, sofern sie überhaupt in eine ISAPRE aufgenommen werden. Die höchsten Zuzahlungen im Krankheitsfall betreffen die Menschen mit den niedrigsten Gehältern. Gerade die „Billigverträge“, die auch für GeringverdienerInnen finanzierbar sind, lassen die Versicherten regelrecht im Regen stehen. Wer indes zu den SpitzenverdienerInnen gehört und noch nicht auf die Fünfzig zugeht, der oder die kann sich einen „Gesundheitsplan“ leisten, der die meisten stationären Behandlungen einschließlich der Unterbringung in einer gut ausgestatteten Privatklinik vollständig deckt. Hätte Carlos jeden Monat 1000 Euro in seiner Lohntüte, könnte er nicht nur zwischen einer größeren Zahl von Verträgen auswählen, sondern mit seinem Pflichtbeitrag auch eine Privatpolice abschließen, die eine vollständige Kostenübernahme bei stationären Behandlungen vorsieht. Seine kleine Tochter Sandra wäre dann schuldenfrei auf die Welt gekommen.

Dieser Text beruht auf Nachforschungen im Rahmen eines Einsatzes für ein GTZ-Projekt Ende 1999/Anfang 2000.

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