Dr. Dr. Jens Holst, international consultant - health expert

Sie sind hier: » Publikationen / Publications » Journalistische Artikel / journalistic articles » Lateinamerika / Latin America
14.03.2000

Chile: Das Wirtschaftswunder hat seinen Preis

Chile bleibt trotz aller ökonomischen Erfolge ein Land der sozialen Gegensätze

Jens Holst

Chile nimmt im Kreis der Länder Latelnamerikas eine Sonderpositlon ein. Am chilenischen, Wirtschaftswunder versuchen sich ander. Länder zu orientieren. Doch der soziale Preis für das Modell Chile Ist hoch.

Finanzminister Alejandro Foxley sieht seine Aufgabe als erfolgreich erledigt: "Dies ist ein hervorragender Abschluß für eine Regierung, die auf wirtschaftlichem Gebiet durchgehend Erfolg gehabt hat." Viel besser hätte die Bilanz zum Ende der Legislaturperiode der Mitte-Links-Koalition von Präsident Patricio Aylwtn kaum ausfallen können.

Im Dezember, eineinhalb Monate vor dem Regierungswechsel, lag die Inflationsrate bei minus 0,1 Prozent, auf das ganze Jahr 1993 gerechnet ilegt sie bei zwölf Prozent; die Arbeitslosigkeit ging auf 4,8 Prozent zurück und die Gehälter stiegen um 2,7 Prozent.

Die Perspektiven für dieses Jahr sind nicht minder rosig. Foxley geht von einem Wachstum von sechs Prozent und einer Inflationsrate von weiterhin etwa zwölf Prozent aus.

Der wirtschaftllche Aufschwung ist Im Land nicht zu übersehen. In den vier Jahren der Aylwin-Reglerung hat eine beachtliche Modernisierung stattgefunden. Ein regelrechter Bauboom verändert das Stadtbild von Santiago, in den Urlaubszentren entstehen modernste Hotelarilagen mit höchstem Standard. Beeindruckend ist die Zahl von Neuwagen im Straßenverkehr, riesige Einkaufszentren werden errichtet, die den neuen Reichtum zur Schau stellen.

Kaufkraft gestiegen

Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt: "Letztens war ich in einem der Einkaufszentren in La Florida, um mir ein Paar Strümpfe zu kaufen", erzählte eine Soziologiestudentin, "und da wurde ich doch tatsächlich gefragt, In wie vielen Raten Ich zahlen wollte." Ein übliches Verfahren in den ärmeren Stadtvierteln, das den Einkomrnensverhäitnissen der Bevölkerung entgegenkommt. Ende letzten Jahres kämpften die Lehrer um die Aufstockung ihres Lohns auf 150 000 Pesos pro Monat, umgerechnet nicht einmal 700 Mark, nach der jüngsten Gehaltserhöhung bekommen sie gerade mal 130 000 Pesos. Der gesetzlich festgelegte Mmdestiohn liegt knapp über 170 Mark pro Monat, doch viele bekommen nur die Hälfte ausgezahlt.

Bei den chilenischen Lebenshaltungskosten, wo ein Liter Milch 1,20 Mark und ein Kllogramm Brot fast 1,60 Mark kosten, reicht das kaum zum Überleben.

Regierungsvertreter betonen allerdings immer wieder, daß seit dem Ende der Militärdiktatur gerade die untersten Einkommen am stärksten zugenommen haben. Tatsächlich Ist die Kaufkraft der armen Leute um bis zu 38 Prozent gestiegen. Pedro Säenz von der UNO-WJrtschaftskommission für Lateinamerika, CEPAL, bestätigt diese Einschätzung: "Die niedrigsten Löhne haben in Chile einen großen Sprung getan, bei den Leuten, die einen halben Mindestlohn verdienen, gab es sogar eine Steigerung um 40 Prozent." Was in Prozenten beeindruckend erscheint, ist real jedoch überaus bescheiden, bedeutet es doch nichts anderes als eine Lohnsteigerung von 85 auf etwa 120 Mark pro Monat.

Ein Drittel Arme

Geht man von dem geschätzten Zuwachs von sieben Prozent In den obersten Elnkommensgruppen aus, wird nachvollzlehbar, daß Chile trotz der ökonomischen Erfolge ein Land krasser sozialer Gegensätze bleiben wird. So gesteht auch Pedro Säenz ein, daß sich die Einkommensverteilung in Chile seit dem Ende der Pinochet-Dlktatur insgesamt kaum geändert hat. Er betont jedoch, daß der wirtschaftliche Aufschwung auch die unteren sozialen Schichten berührt hat. "Die Armut und insbesondere die extreme Armut in Chile ist zwlschen 1990 und 1992 erheblich zurückgegangen."

Als arm gilt eine vierköpfige Familie, der monatlich weniger als 400 Mark zur Verfügung stehen. Nach Berechnungen von CEPAL sank der Anteil der Armen in Chile von 1987 bis 1992 von 44,4 auf 32,7 Prozent der Gesamtbevölkerung von 13 Millionen Menschen.

Jugend-Arbeitslosigkeit

Neben einer allgemeinen Lohnsteigerung hat vor allem der Rückgang der Arbeitslosigkeit zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen beigetragen. Allein im vergangenen Jahr wurden annähernd 300 000 neue Arbeitsplätze geschaffen, die Arbeitsiosenrate ging landesweit auf 4,8 und Im Großraum Santiago sogar auf 3,5 Prozent zurUck. Ein vergleichsweise hoher Anteil entfällt jedoch auf Junge Leute zwischen 15 und 24 Jahre, von denen immerhin 11,2 Prozent derzeit beschäftigungslos sind.

Führende Wirtschaftsvertreter des südamerikanischen Landes wähnen sich an der Schwelle zur industrialisierten Welt, der Beitritt zur nordamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft NAPI A ist das erklärte Nahziel.

Doch ein Problem wird oft außer acht gelassen: Strukturell hat sich bisher nichts geändert, Chile bleibt ein klassisches Dritte-Welt-Land, das naliezu ausschließlich Rohstoffe exportiert: neben Kupfer vor allem Holz, Obst und Fischprodukte. Ansätze zur systematischen Industriallsierung sind kaum zu erkennen.

Banken und Geschäfte in Santiago da Chile. Trotz Aufschwungs bleiben die sozialen Gegensätze groß.


Hier kommen Sie direkt zum Artikel der Berliner Zeitung.