Dr. Dr. Jens Holst, international consultant - health expert

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14.11.2009

Röslers Big Bang

Gefahr im Verzug

Jens Holst
Nun hat er die Katze herausgelassen, die im Sack zu lassen Angela Merkel dem Wahlvolk noch vor wenigen Wochen versprach. Es ist keine friedliche Hauskatze, sondern sie hat das Zeug zum gefräßigen Tiger, der eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften des Homo sapiens zu verschlingen droht. Die von Philipp Rösler (FDP) vorgeschlagene Kopfpauschale bedeutet nicht weniger als die Abschaffung der sozialen Krankenversicherung in Deutschland. Das steht auch so im Koalitionsvertrag, an dem Philipp Rösler nach allseitigem Bekunden fleißig herumgedoktert hat: "Beitrag und Leistung müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen".

Nach diesem Prinzip arbeiten die Privatkassen, aber bei der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zahlt bisher jeder nach seinen finanziellen Möglichkeiten und erhält medizinische Versorgung nach Bedarf - und zwar völlig unabhängig vom gezahlten Beitrag. Die Einführung eines für alle gleichen Krankenkassenbeitrags hebelt dieses Solidarprinzip aus und beendet die über 120-jährige Sozialversicherungsgeschichte in Deutschland. Anderslautenden Beteuerungen zum Trotz wird auch der unvermeidbare Sozialausgleich für Bezieher niedrigerer Einkommen den Verlust an sozialer Gerechtigkeit nicht kompensieren.

Röslers Hinweis, Umverteilung habe nichts in der sozialen Sicherung zu suchen und sei Aufgabe des Steuersystems, ist zynisch. Seit Jahren driftet die Einkommensschere in Deutschland rapide auseinander. Das Steuersystem ist schon jetzt völlig überfordert, wirksame Umverteilung zu gewährleisten. Zudem hat die FDP Steuersenkungen auf die Fahnen geschrieben, will aber gleichzeitig den Bundeshaushalt um weitere Zigmilliarden Euro für den Sozialausgleich der Kopfpauschale erleichtern. Die Quadratur des Kreises wirkt dagegen wie ein Kinderspiel.

Rösler vergisst bei seinen populistischen Botschaften an die treue Wählerschaft in Arztpraxen und Unternehmerkreisen, dass es das "ideale" Gesundheitswesen nicht geben kann. Und dass es unverantwortlich und fahrlässig ist, ohne Not das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn jeder Systemwechsel verursacht erhebliche Verwerfungen und enorme Umbaukosten. Zudem ist die Belastung des Wirtschaftsstandorts Deutschland, die Rösler und Co. mit der Kopfpauschale überwinden wollen, eher gefühlt als real. Und die soziale Krankenversicherung ist zwar nicht perfekt, aber erheblich besser als ihr Ruf. Sozialversicherungen sichern die Menschen erheblich zuverlässiger gegen Krankheitsfolgen ab als freiwillige Schenkungen, die realitätsferne "Leistungsträger" heute allen Ernstes als Alternative vorschlagen.

Die derzeit grassierende Sozialstaatschelte übergeht geflissentlich die positiven Auswirkungen solidarischer Sozialversicherungssysteme. Federn sie doch wirkungsvoll die gesellschaftlichen Kosten privatwirtschaftlicher Logik ab, vermeiden Armut und sichern allen Bürgern einen gewissen Lebensstandard. Länder mit beschränkter sozialer Haftung wie die USA bringen enorme Summen für die Gesundheitsversorgung Armer und Alter auf. Das Kopfpauschalensystem der Schweiz kostet die eidgenössischen Steuerzahler Jahr für Jahr etliche Milliarden Franken. Sozialer Ausgleich, wie ihn beispielsweise die GKV bewirkt, entlastet hingegen Staat und Volkswirtschaft. Funktionierende Sozialversicherungen fördern eher das Wachstum als es zu bremsen. Sozialabgaben sind kein bloßer Kostenfaktor, sondern eine Investition in Produktivität und Wirtschaftsentwicklung.

Zudem stößt das Solidarprinzip in der Bevölkerung auf breite Zustimmung. Nach einer Erhebung der Bertelsmann-Stiftung befürworteten Ende 2008 sogar vier von fünf FDP-Wählern die Umverteilung von Besserverdienenden zu Einkommensschwächeren. Die Umstellung des Gesundheitssystems auf Kopfpauschalen widerspräche dem Wunsch der allermeisten Bundesbürger, die trotz langjähriger ideologischer Dauerberieselung bisher nicht zum Homo oeconomicus mutiert sind.

Hier finden Sie den Artikel Röslers Big Bang in der Berliner Zeitung vom 14. November 2009.