Dr. Dr. Jens Holst, international consultant - health expert

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23.09.2008

Zuzahlungen als Bumerang

Kostenbeteiligungen im Gesundheitswesen wirken sich langfristig negativ aus

Jens Holst
Eine Auswertung wissenschaftlicher Literatur der letzten vier Jahrzehnte liefert keinen Beleg für die weit verbreitete Annahme, dass Versicherte medizinische Leistungen übermäßig ausnutzen, wenn diese kostenfrei sind (Moral-Hazard-These). Im Gegenteil: Die Einführung von Patienten-Zuzahlungen scheint eine angemessene Versorgung zu untergraben, denn Patienten verzichten eher auf notwendige Maßnahmen und lassen sich davon abhalten, rechtzeitig medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Kaum ein gesundheitspolitisches Thema ist derart umstritten wie Zuzahlungen im Krankheitsfall. Während die Einen darin einen wesentlichen und unerlässlichen Schritt zur Effizienzsteigerung im Gesundheitswesens sehen, betrachten die Anderen sie als kontraproduktiv und gefährlich. Diese Kontroverse zieht sich auch durch die gesundheitswissenschaftliche und –ökonomische Forschung, die dieser Frage seit vielen Jahren an Hand von Einzelstudien nachgeht. Lange widmete sich die Ökonomie diesem Thema intensiver als andere Fachrichtungen, und nichtmedizinische Ansätze bestimmten vielfach die Debatte.

Eine klare Einschätzung der Sachlage auf diesem umstrittenen Feld unter Abwägung der Argumente erschien kaum möglich. Nun liegt erstmals eine gesundheitswissenschaftliche Auswertung von annähernd 1.500 Studien zu diesem Thema vor. Besonders bemerkenswert ist der interdisziplinäre Ansatz dieser umfangreichen Literaturrecherche, die Publikationen der verschiedenen beteiligten Wissenschaftsrichtungen wie Gesundheits- und Pflegewissenschaften, Ökonomie, Medizin, Verhaltensforschung, Psychologie und Soziologie einbezieht. Der Streit um Selbstbeteiligungen ist so alt wie die Kostenübernahme medizinischer Leistungen durch die soziale Krankenversicherung. Der Umfang der Zuzahlungen im Krankheitsfall hat über die Jahre deutlich zugenommen, in Deutschland allein zwischen 1980 und 2001 von 8,1 auf 12,3 Prozent der Gesundheitsausgaben. Stand bis in die 1970er Jahre die Beteiligung der Patienten an den Behandlungskosten überwiegend unter dem erklärten Ziel, die Kostenträger zu entlasten, hat sich die Begründung in den letzten Jahrzehnten verschoben.

Heute argumentieren Befürworter von Zuzahlungen in erster Linie mit deren Potenzial, das Verhalten der Verbraucher am Gesundheitsmarkt sinnvoll zu steuern. Wer für einen Teil der Behandlungskosten selber aufkommen muss, werde sich genauer überlegen, ob er einen Arzt aufsucht bzw. andere Versorgungsleistungen in Anspruch nimmt. Eigenbeteiligungen wie die vor drei Jahren in Deutschland eingeführte Praxisgebühr und weltweit anzutreffende Arzneimittelzuzahlungen sollen ungerechtfertigter Inanspruchnahme entgegenwirken und die Effizienz des Gesundheitswesens erhöhen.

Dahinter steht der Glaube, dass Versicherte und Patienten in erster Linie danach trachten, ihren materiellen Vorteil zu maximieren. Das Bild vom Homo oeconomicus bestimmt mittlerweile auch die Sozialpolitik. Nach dieser in den akademischen Wirtschaftswissenschaften vorherrschenden Auffassung ist das Gesundheitswesen zuallererst ein Markt, auf dem es keineswegs primär um Gesundheit, Krankheit oder Menschen geht, sondern um die Interaktion von Marktteilnehmern. Seit der amerikanische Ökonom Mark Pauly vor 40 Jahren angebliche Wohlfahrtsverluste durch umfangreiche soziale Sicherung ins Feld führte, ordnen viele seiner Kollegen jegliche Mehrnutzung medizinischer Versorgungsangebote vornehmlich dem Moral-Hazard-Phänomen zu. Danach wollen Menschen alles in Anspruch nehmen, was es umsonst oder erheblich günstiger gibt, als wenn jeder selbst dafür aufkommen müsste.

Wer Versicherungsschutz genießt, nehme nicht nur jede erdenkliche Gesundheitsleistung in Anspruch, sondern kümmere sich auch ungenügend um Vorbeugung. Einflussreiche Ökonomen befürchten sogar einen gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsverlust durch die vermeintlich hemmungslose Inanspruchnahme von versicherten Leistungen. Dieser Gedanke ist in den europäischen Ländern mit umfassender sozialer Absicherung gegen finanzielle Krankheitsrisiken weniger präsent, aber international bestimmt diese Sichtweise zum Beispiel die Debatte über eine universelle Krankenversicherung, etwa in den USA. Weitaus fataler sind die Auswirkungen dieses Diskurses in vielen Entwicklungsländern, wo die Weltbank und andere internationale Geberorganisationen lange für pures Wirtschaftswachstum und gegen den Aufbau sozialer Sicherungssysteme votierten.

Zwar lenkte der Weltbank-Bericht „Investing in health“ Anfang der 1990er Jahre das Augenmerk stärker auf Gesundheitssysteme in den Ländern des Südens, forderte aber gleichzeitig von den Entwicklungsländern eine stärkere Verlagerung der Gesundheitsversorgung auf „user fees“. Bis heute treten mächtige Organisationen in den ärmsten Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas teilweise für Nutzergebühren ein, weil Gesundheitsleistungen anderweitig nicht zu finanzieren seien und kostenfreie Dinge für die Menschen keinen Wert hätten.

Wesentliche Nahrung erhielt die Moral-Hazard-Idee aus dem Krankenversicherungsexperiment der privaten Beratungsfirma RAND aus Kalifornien. Der Vergleich ergab zwischen verschiedenen Versicherungsverträgen vordergründig einen schlichten Zusammenhang: Je höher die finanzielle Belastung der Patienten, desto geringer die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen – und das ohne Einbußen beim Gesundheitszustand.

Die Lösung des vor allem in den Industrieländern und in besonderem Maße in den USA zu beobachtenden Problems stetig anwachsender Gesundheitsausgaben schien somit auf der Hand zu liegen. Seither gelten Zuzahlungen als Mittel zur nachfrageseitigen Kostendämpfung, im Zuge des wirtschaftliberalen Umbruchs zunehmend unterlegt mit ideologischen Begriffen wie „Vollkaskomentalität“ auf der einen und „Stärkung der Eigenverantwortlichkeit“ auf der anderen Seite.

Dabei konnte das fünfjährige RAND-Experiment langfristige gesundheitliche Folgen überhaupt nicht erfassen, und eingehende Analysen kamen zu ganz anderen Schlussfolgerungen: Zuzahlungen verschlechterten schon nach kurzer Zeit die Blutdruckeinstellung, die Versorgung mit Brillen und den Zahnstatus der Betroffenen. Seither haben hunderte Untersuchungen gezeigt, dass unerwünschte Wirkungen die angestrebten Steuerungseffekte vielfach auf- und sogar überwiegen. Selbstbeteiligungen gefährden die medizinische Versorgung vor allem von chronisch Kranken, belasten in besonderem Maße untere soziale Schichten und verursachen vielfach erhebliche Folgekosten.

Bei genauerer Betrachtung weckt bereits die Analyse der theoretischen Grundlagen Zweifel an der postulierten Steuerungswirkung von Zuzahlungen im Krankheitsfall, die auf den üblichen Annahmen aus Lehrbüchern der Nachfragetheorie beruht. Um rationale Konsumentscheidungen treffen zu können, müssten Verbraucher über ausreichende Information verfügen, vorwiegend vernunftgesteuert handeln und sich stets der Konsequenzen ihrer Entscheidung bewusst sein. Weiterhin müssten die Handlungsweisen der Individuen vollständig ihren Vorlieben entsprechen, jeder am besten selbst über seine eigene Wohlfahrt entscheiden können und gesellschaftliche Wohlfahrt die bloße Summe individueller Nutzenmaximierung sein, die wiederum ausschließlich am Konsum von Gütern und Leistungen hängt.

Sind diese Annahmen schon auf „normalen“ Märkten zweifelhaft, stehen sie in klarem Widerspruch zu den Bedingungen im Gesundheitswesen, das sich durch Informationsasymmetrie und weitgehende Unkenntnis auf Seiten der Versicherten und Patienten auszeichnet. Erst 2007 belegte eine Untersuchung aus der Schweiz die allgemeine Unwissenheit selbst über häufige Krankheiten; nur ein kleiner Teil der Befragten kannte Risikofaktoren und Symptome eines Herzinfarktes, eines Schlaganfalls, von chronischem Asthma oder HIV/AIDS. Von Nichtmedizinern kann man schwerlich qualifizierte Entscheidungen darüber erwarten, ob sich die Ausgaben für Arztbesuche oder Medikamente „rentieren“. Die Folgen einer „Konsumentscheidung“ im Gesundheitswesen können allenfalls Experten mit entsprechendem Fachwissen abschätzen.

Die Befürworter von Zuzahlungen im Krankheitsfall unterstellen, dass die Steuerung in die erwünschte bzw. richtige Richtung zielt und zur Vermeidung von Verschwendung beiträgt. Diese Annahme erweist sich allerdings nicht allein wegen der unzureichenden medizinischen Kompetenz der Bevölkerung als realitätsfremd. Sie beruht zudem auf der Annahme, eine klare Unterscheidung zwischen „sinnvoller“ und „überflüssiger“ Inanspruchnahme wäre möglich. Nimmt man als Maßstab für die Sinnhaftigkeit die medizinische Indikation von Leistungen, so verringern Selbstbeteiligungen medizinischen Unsinn und indizierte Maßnahmen gleichermaßen. Nirgends auf der Welt ist es bisher gelungen, Zuzahlungsformen zu entwickeln, mit denen sich zuverlässig zwischen indizierter und „leichtfertiger“ Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen trennen ließe - das zeigen die ausgewerteten Studien.

Viel dramatischer ist eine andere Erkenntnis: Der Versuch der Kostendämpfung durch Patientenzuzahlungen erweist sich häufig als Bumerang. Viele Studien und Experimente haben mittlerweile aufgezeigt, dass Selbstbeteiligungen allzu oft die Kosten in die Höhe treiben. Viele betroffene Patienten reagieren auf anfallende Selbstbeteiligungen subjektiv sehr rational, indem sie Arztbesuche vermeiden oder verschieben, Medikamentenpackungen strecken oder Therapien ganz abbrechen. Dies führt allenfalls kurzfristig zu Einsparungen, mittel- und langfristig aber zu erheblichen Kosten durch vermeidbare Komplikationen. Die Zahl empirischer Belege für solche unerwünschten Wirkungen von Zuzahlungen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen.

Neu sind derartige Erkenntnisse allerdings keineswegs. So kam die Begrenzung der Kostenübernahme für Psychopharmaka bei Schizophrenie-Kranken die US-Sozialkasse Medicaid Anfang der 1990er Jahre teuer zu stehen: Zusätzliche Arztbesuche und stationäre Aufnahmen verursachten Pro-Kopf- Ausgaben, die 17-mal so hoch waren wie die erzielten Einsparungen. In die gleiche Richtung weisen die Befunde einer groß angelegten Studie aus der kanadischen Provinz Québec, die den Auswirkungen von Medikamentenzuzahlungen Mitte der 1990er Jahre nachging. „Geringfügige“ Rezeptgebühren führten zu einem Rückgang der Einnahme essenzieller Arzneimittel bei älteren Menschen um 9,1 und bei Sozialhilfeempfängern sogar um 14,4 Prozent.

Die verminderte Tabletteneinnahme verursachte allerdings bei beiden Gruppen eine Verdopplung der behandlungswürdigen Zwischenfälle und Notfalleinweisungen. Auch wenn in diesem Fall keine explizite Ausgabenberechnung möglich war – die vergleichsweise kostspieligen Arzt- und Krankenhausbehandlungen dürften die Einsparungen bei den relativ preiswerten Arzneimitteln unschwer kompensiert haben.

Die vorübergehende Abschaffung einer geringfügigen Rezeptgebühr in Italien am 1. Januar 2001 verbesserte die Therapietreue von Bluthochdruckpatienten und verringerte die Zahl der Krankenhauseinweisungen, aber nach der Wiedereinführung der Arzneimittelzuzahlungen am 1. März 2002 stieg die Zahl der stationären Behandlungen dieser Patientengruppe wieder an. Eine 2006 veröffentlichte Meta-Analyse wies nach, dass Patienten mit Herzschwäche, Fettstoffwechselstörungen, Zuckerkrankheit und psychiatrischen Krankheiten nach Erhöhung der Medikamentenzuzahlungen zwar weniger Tabletten einnahmen, dafür aber vermehrt teurere medizinische Versorgungsleistungen benötigten. Berechnungen aus den USA lassen vermuten, dass die zuzahlungsfreie Abgabe von Blutfett senkenden Mitteln an betroffene Patienten das US-System um mehr als eine Milliarde Dollar entlasten würde. Und nach einer Studie aus Kalifornien von 2007 verursachen höhere Arzneimittelzuzahlungen nicht nur mehr Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte, sondern auch einen höheren Krankenstand bei rheumakranken Arbeitnehmern. Selbstbeteiligungen können also auch unerwünschte externe Wirkungen auf Arbeitsmarkt und Volkswirtschaft entfalten.

Der aktuelle Forschungsstand stellt gängige theoretische Annahmen in Frage, auf denen heute viele gesundheitspolitische Entscheidungen beruhen. Seine wesentliche Begründung zieht das Moral-Hazard-Theorem aus der Beobachtung des Einflusses aktuell und individuell anfallender Kosten auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Dass eine höhere Nutzung bei niedriger finanzieller Belastung tatsächlich auf Moral Hazard beruht und nicht Ausdruck eines realen Bedarfs bzw. einer vorherigen Unterversorgung ist, konnte allerdings bisher niemand überzeugend nachweisen. Die Analyse vor allem der ökonomischen Literatur hat gezeigt, dass es sich vielmehr um eine „self-fulfilling prophecy“ handelt: Nur wer Moral Hazard im Gesundheitswesen unterstellt, kann auch Belege dafür erkennen.

Aktuelle Befunde aus der klinischen Epidemiologie und der Versorgungsforschung zeigen jedoch, dass der Mensch nicht vorwiegend als Homo oeconomicus agiert und medizinische Leistungen nur deswegen in Anspruch nimmt, weil sie umsonst sind. Trotz ihrer erdrückenden Materialfülle wird die hier vorgestellte Literaturrecherche eingefleischte Denkgewohnheiten wohl schwerlich außer Kraft setzen können. Zu tief ist es in den Köpfen der meisten Entscheidungsträger verankert, bei Reformen des Gesundheitswesens zuallererst vom möglichen Missbrauch durch Versicherte bzw. Patienten auszugehen und damit alternative, sinnvollere Regulierungen außer Acht zu lassen. Aber diese Studie kann zur längst überfälligen Umkehrung der Beweislast beitragen: In Zeiten von „evidence-based health policy“ sollte es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, von Befürwortern der Zuzahlungsidee belastbare Belege für die angeblich positiven Steuerungswirkungen dieses Instruments zu verlangen. Und die stehen bisher aus.

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